Annie Ernaux, der Nobelpreis und die Literaturkritk

…und du musst dich schon fragen, ob du nicht irgendwie selbst daran schuld bist, dass dich ein kleiner dicker weißer Mann anhimmelt, davon schreibt, dass du „einen wunderbaren Schalk im Nacken“ habest, dass dich auch mit 82 noch „ein erotisches Flair“ umgebe, dass er sich „spontan“ in dich verliebt habe … warum werden sie denn so klebrig und übergriffig, diese Typen in den Redaktionsschreibstuben? Hat es vielleicht damit zu tun, dass sie dich unter dem Label „AutoFiktion“ abheften können, dass sie glauben, dass du nichts weiter zu erzählen hast als dein eigenes Leben? Und wenn du dann noch aus einer Klasse stammt, die sie verachten, werden sie erst recht kumpelig und wuschig, weil sie glauben, dass das alles stimmen muss, was du erzählst, weil du doch zu doof bist, dir irgendetwas auszudenken oder dein Leben auszuschmücken, deswegen glauben sie dir alles unbesehen, und es wäre ja mal einen Gedanken wert, sich auszumalen, was passieren würde, wenn du, Annie Ernaux, mitteilen würdest, du hättest gar keine Abtreibung gehabt, ätschibätsch, oder dass dein 1. Geschlechtsverkehr nicht von einem schmierigen Beau erzwungen wurde, sondern richtig geil war, weil du einen armen Wicht, der dich vergötterte, dazu benutzt hast – dass du dir also das, was du als dein Leben verkaufst, nur ausgedacht hast – jede Wette, sie würden dir‘s krumm nehmen, würden sich verarscht fühlen und eingeschnappt behaupten, deine Texte seien nun nichts mehr wert, dabei sind sie es doch, die nichts schnallen, nicht schnallen, dass Literatur Lüge (Nabokov) ist und eben deswegen Wahrheit.

(Oder nehmen wir Wolfgang Welt, dem auch alles unbesehen geglaubt wird, der als naives Hascherl gehashtagt wird, weswegen ein deutscher Germanistikprofessor sich auch nicht entblödet, bei der schriftlichen Schilderung einer Begegnung mit Welt dessen Ruhrpottslang nachzubilden – denn auch die Herren Professoren blicken herab auf die, deren Herkunft sie verachten (und die trotzdem mehr geschaffen haben als all die verbeamteten Windbeutel je schaffen werden)).

Ein Kommentar zu „Annie Ernaux, der Nobelpreis und die Literaturkritk

  1. Sie hören nicht auf: „Die Magna Mater (i.e. Annie Ernaux, TS) jener Abrechnungsliteratur mit der eigenen prekären Herkunft, die in den Anklagen eines Didier Eribon oder Edouard Louis fortlebt (allerdings in einem weit weniger ausgefeilten Französisch), diese Magna Mater also wirkt tatsächlich in diesem privaten Rahmen genauso unfroh wie in ihren Büchern.“ Tilman Krause, welt.de Dabei bedarf es doch so wenig, froh zu sein, wie eine deutsche, noch nobelpreislose, Weltklasseliteratin (Juli Zeh), einer anderen, ebenfalls noch nobelpreislosen Weltklasseliteratin (Mariana Leky) in der SZ bescheinigt: „Die Kurzgeschichten haben alles, was es zur literarischen Weltklasse braucht: Originalität in der Wahrnehmung, Witz und psychologischen Tiefgang. Auf poetische Weise eröffnet Mariana Leky Einblicke in die Alltagssorgen und Kümmernisse ihrer Figuren, ohne dabei auch nur annähernd in Larmoyanz oder Depression zu verfallen. Im Gegenteil, die Geschichten machen richtig gute Laune.“ Und das ist doch das wichtigste Kriterium, oder?

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