Palim Palim, Poem Poem – Deutsche lyrische Spitzenkräfte im Kampf gegen Israel

Am 4.4.2012 veröffentlichte die FAZ ein Gedicht von Günter Grass („Was gesagt werden muss“), in dem dieser sein „Schweigen“, sein „allgemeines Verschweigen“ der Tatsache, dass Israel „wachsend nukleares Potential“ besitze und damit als „Atommacht (…) den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ gefährde, zähneknirschend beklagte, sich dann aber mannhaft zusammenriss und sagte, „was gesagt werden muss“: Israel, erfahren wir also, hat die Atombombe, oh weh! Wie Indien, wie Pakistan auch, wie Russland, die USA, China und Frankreich, doch all diese Länder erwähnt Grass nicht, gefährden doch nicht sie den Weltfrieden, sondern Israel. Aber nicht nur dies bringt Grass zum Brechen seines Schweigens: Weil Deutschland „ein weiteres U-Boot nach Israel“ liefern will, sieht er die „uns“ („als Deutsche belastet genug“ (die, weil sie Juden ermordet haben, nun die Juden vom Morden abhalten müssen)) als „Zulieferer eines Verbrechens“, sieht „unsere Mitschuld“ und kann daher nicht mehr anders: „Ich schweige nicht mehr“ (es ist etwas redundant, dieses Poem), denn zu lange musste diese „vom Wahn okkupierte Region“ darauf verzichten, in Grass‘ Lyrik aufzutauchen. Sprachlich nicht mehr als in Zeilen gebrochene Prosa, inhaltlich wirr: Grass, der erst im Alter zugab, bei der Waffen-SS mitgeschossen zu haben, macht aus dem kleinen Staat der Juden nichts weniger als den Weltfriedensgefährder, dem er gerne untersagen möchte, sich zu verteidigen.

Fast genau 12 Jahre später veröffentlichte das deutsche Dieter- und Dichterduo Dehm / Hallervorden mit „Gaza Gaza“ ein weiteres Gedicht zum Thema. Anders als bei Grass bemühen sich die beiden um Metrum und Reim, auch wenn diese Bemühungen oft scheitern: „Bart“ reimen sie auf „zarten“, „sein“ auf „erscheint“, um dann mit einer rhetorischen Frage zu schließen: „Und das soll kein Völkermord sein?“ Natürlich ist es schwer zu loben, dass sich die beiden Talente aus dem Land der Völkermörder wieder am Thema Israel versuchen, schaffen sie es doch, die Grasssche Wirrnis noch zu übertreffen: Gazas „zerfetzte Glieder“ bringen nichts hervor außer neuer Gewalt, „die Macht, die die Bestien schafft,“ soll sich nicht wundern, wenn aus dem „Albtraum für Generationen“ nichts entsteht außer „aus Ohnmacht brodelnde Kraft.“ Hier die böse „Macht“ (Juden), dort die hilflose „Ohnmacht“, der nichts anderes bleibt, als auf die ihr angetane Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren. Es handelt sich anscheinend um den Versuch, die Schlagzeile der „jungen Welt“ zum 7. Oktober („Gaza schlägt zurück“ ) ästhetisch auszuschmücken.

Sei es nun die zerhackte Prosa des Sozialdemokraten Grass, seien es die holpernden Verse des FDP-Anhängers Hallervorden, die beiden Texte zeigen vor allem eines: Antisemitismus in Deutschland ist nicht nur rechts- oder linksextremistisch oder islamistisch, er ist vor allem universell. Und sehr deutsch.

Und Israel? Günter Grass schrieb, was er schreiben zu müssen meinte, 2012. 2015 starb er, Israel überlebte ihn und es steht zu hoffen, dass dieser Staat auch die Dieters (*1935 resp. *1950) überleben wird. Den Weltfrieden gefährden eh andere.

Fleischkäse woke

Die Ethnologin und Islamexpertin (wobei es sich um einen der seltenen Fälle handelt, in denen eine Islamexpertin des Arabischen nicht mächtig ist) Susanne Schröter beklagte im „Focus“ am 29.3.24 eine „woke Doppelmoral“: „Ramadan wird gefeiert, Karfreitag bekämpft“. Allerdings geht es nicht darum, den Feiertag selbst abzuschaffen, sondern lediglich um das Tanzverbot, das laizistisch gesonnene Deutsche seit langem bemängeln. Das hält Schröter nicht davon ab, zu kritisieren, dass „Jusos und junge Grüne“ seine Aufhebung fordern, während gleichzeitig eine „Allianz woker Linker und internationaler Islamisten“ „jedwede Islamismuskritik als Islamfeindlichkeit“ denunziere. Beweise für Letzteres bleibt sie schuldig, aber die Beleuchtung von zwei Straßen zum Ramadan sieht sie allemal als Zeichen eines „tiefen Hasses auf das Eigene“ und als „vollkommen unkritische Glorifizierung des Fremden“. Das Fremde ist also der Islam, das Eigene das Christliche. Eine, vorsichtig formuliert, nicht unbedingt aufgeklärte Weltsicht, aber machen wir weiter: Am selben Tag erscheint auf dem Blog „ruhrbarone“ eine wohlwollende Rezension von Schröters neuem Buch („Der neue Kulturkampf: Wie eine woke Linke Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft bedroht“ ), in der behauptet wird, „Islamisten und die woke Linke“ eine nicht nur der „Hass auf den Westen und die Aufklärung“, sondern auch die Ablehnung jeder Islamkritik. Zwar fehlen ebenfalls die Belege, es geht aber auch hier eher darum, die verheerenden „Einflüsse des woken Denkens“ und das „Streben nach Hegemonie“ der „woken Aktivisten“ dar- resp. bloßzustellen, zum Beispiel, wenn jemand „darauf hinweise, dass es bei Menschen nur zwei Geschlechter“ gebe. Nun entspricht zwar die Behauptung, es gebe gusseisern lediglich zwei Geschlechter, vielleicht nicht ganz dem Geist der Aufklärung, die in Frage stellt, was alle glauben, aber auch das Karfreitagsfest, an dem noch lange dafür gebetet wurde, dass die Juden aus ihrer finsteren Verblendung herausfinden mögen, gilt ja nicht unbedingt als Leuchtfeuer wissenschaftlichen Denkens. Aber selbst darum geht es nicht, wenn man die folgende Zusammenfassung des Rezensenten liest: „Die Ethnologin skizziert eine bunte Szene, deren Angehörige wenig eint außer dem festen Willen, alles, was mit dem Westen, seiner Kultur- und Lebensweise und der Aufklärung zu tun hat, zu denunzieren und zu vernichten.“ Vielleicht eint aber auch den Rezensenten und seine Ethnologin der feste Wille, alles, was ihnen nicht in den Kram passt, als „woke“ zu denunzieren, wofür auch spricht, dass die Nachricht, das Gendern werde „trotz woker Proteste verboten“, bei beiden für Optimismus sorgt.

Vor Jahren stand ich einmal in der Schlange einer Stuttgarter Imbissmetzgerei. Angeboten wurde „Fleischkäse“, ein Gericht, dessen Anblick und Geruch mich von fern an den seit je ungeliebten Leberkäse erinnerte. Was denn da drin sei, fragte ich eine Dame in der Schlange und erhielt als Antwort: „Da isch alles möglische drin.“ So verhält es sich auch mit dem Begriff „woke“, der nichts erklärt, aber zuverlässig anzeigt, was derjenige, der ihn verwendet, ablehnt: Tanzverbote, Gendern, Nachdenken über Geschlechter usw. Ein Begriff aber, der für alles taugt, taugt nichts. Wer noch einigermaßen seine Sinne beisammen hat, wird ihn nicht verwenden.

Ein rechtsextremer Backfisch und ein geprügeltes Kind oder: Was in Deutschland zum Skandal wird (und was nicht)

Was in Deutschland zum Skandal wird: Eine 16jährige postet rechtsextreme Slogans und Symbole und erhält eine folgen- und harmlose Gefährderansprache der Polizei. Der Fall wird von der AfD ebenso skandalisiert wie von ihrer Mutter (AfD-Anhängerin), es sei doch nur um Schlümpfe und Heimatliebe gegangen. Die bürgerliche Presse gibt sich empört, zum Beispiel Ulf Poschardt in der „Welt“ („der neue deutsche Idealbürger ist der Denunziant (…) typisch für den Ungeist, der überall um sich greift“ ), zum Beispiel Hubertus Knabe in der „Bild“ („Ältere dürfte der Vorfall an ihre Schulzeit in der DDR erinnern (…). Der Vorfall zeigt auch, wohin der staatlich geförderte Trend führen kann, seine Mitmenschen bei allen möglichen Stellen zu denunzieren“ ), zum Beispiel Reiner Meyer („Don Alphonso“ ) in der „Welt“ („Natürlich kann man Heimatliebe unter Generalverdacht stellen, den Kampf gegen Rechts maximal auf völlig legale Gedankenverbrechen ausdehnen und eine Schülerin bei der Polizei denunzieren Aber nur, wenn man in der Beliebtheit beim Volk mit Darmgrippe und Bandscheibenvorfall konkurrieren will“ ). Der Schulleiter erhält Morddrohungen, Identitäre besetzen das Dach der Schule, mit Amokläufen wird gedroht.

Was in Deutschland nicht zum Skandal wird: Ein Lehrer in Cottbus schlägt einen 12jährigen Jungen aus Syrien so heftig, dass der 3 Tage stationär behandelt werden muss. Zuvor soll er bereits einen tschetschenischen Jungen in den Rücken getreten haben. Seine Mutter berichtet, sie sei nicht ernst genommen worden, als sie sich bei der Schule beschweren wollte, dem Vater des syrischen Jungen wurde seitens der Schulleitung vorgeschlagen, er solle auf eine Anzeige verzichten. Die Polizei ermittelt wegen eines rassistischen Motivs.

Was lehren diese Fälle? 1.) Wenn die – vermeintliche – Denunziation einer Rechtsextremen zu einem größeren Skandal aufgeblasen wird als die Körperverletzung von Schutzbefohlenen aus – vielleicht – rassistischen Motiven, hat die AfD mit ihren Trollhorden längst die Hegemonie über das Internet erlangt. 2.) Eine „Brandmauer“ existiert nicht mehr, wenn bürgerliche Medien allzugerne die Lügen der AfD allzuschnell glauben.

Sehr deutsche Antideutsche

In der deutschen Sprache sind Wörter nicht selten, die zwar wie ihr Antonym klingen, aber genau oder fast dassselbe bedeuten: Ein Unwort ist auch nur ein Wort, Untote sind eigentlich Tote, Unkosten nichts anderes als Kosten und kaum eine politische Gruppierung fühlt sich so sehr den Deutschen (oder zumindest allen, die sie als solche sehen) verbunden, wie diejenigen Herren, die man als „Antideutsche“ bezeichnet und zu deren Plattformen (neben den „Bahamas“ ) der von einem „Welt“- und „jungle World“-Journalisten betriebene Blog “ruhrbarone“ zählt. Dort liest man Artikel, die jedem Straußverehrer und Deutschdenker das Herz aufgehen lassen würden: Imperialismus ist demnach vor allem islamisch, Clankriminelle treiben unbehelligt die innere Sicherheit in den Abgrund und die Deindustrialisierung wird nicht von den Eigentümern der Fabriken, die diese als unrentabel ansehen und schließen, betrieben, sondern von den offenbar allmächtigen Grünen, die sich dem Kampf gegen alles verschrieben haben, an dem der gebeutelte Deutsche noch Freude hat: Autos, Autos, aber auch Autos, zumindest, wenn sie nicht mit Elektrizität fahren.

Manchmal findet man auf dem Blog auch Gastbeiträge eines Aktivisten aus Kassel, der dem dortigen „Bündnis gegen Antisemitismus“ vorsteht. Öffentliche Aufmerksamkeit erlangte dieser Herr sehr mittleren Alters, als er auf antisemitische Kunstwerke der letzten documenta hinwies. Leider kein Aufsehen erregte seine in den „bahamas“ versteckte Abrechnung mit einer Auschwitzüberlebenden, deren Ansichten ihm nicht behagten und die er posthum belehrte, dass sie – im Gegensatz, darf man annehmen, zu ihm – vom Antisemitismus schlicht keine Ahnung habe.

Nach dem 7. Oktober übernahm der Mann aus Kassel, der überzeugt ist, dass „der Antisemitismus rechtsextremer Provenienz eher marginal“ sei (Facebook, 20.10.), ohne großes Zögern Parolen rechtsextremer Provenienz („sofortiger Einwanderungsstopp aus allen muslimischen Ländern, (…) Ausweisung aller Einwanderer aus muslimischen Ländern, die nicht (…) als politische Flüchtlinge anerkannt wurden“ (ibid., 15.10.)), mit dem Ziel, „dass Juden unbehelligt (…) in die Synagoge gehen können“. Allerdings vergaß er, dass es vor Synagogen parkende Polizeiwagen nicht erst seit dem 07.10.23 und auch nicht erst seit 2015 gibt, sondern dass sie zum Straßenbild der Bundesrepublik gehören wie handtuchschmale Fahrradwege. Der Verdacht drängt sich auf, dass es hier weniger um den Antisemitismus geht als darum, die Nachfahren der Tätervolksgenossen, also alle Deutsche, die er für solche hält (Deutsche aus Gaza sind für ihn nur „Besitzer deutscher Pässe“ ), als vorbildlich geläutert darzustellen, als Menschen, die aus der Geschichte alles Notwendige gelernt haben.

Man könnte fast darauf gespannt sein, wie sich dieses Milieu zu den Enthüllungen über die Remigrationsbestrebungen der Nazis um Martin Sellner verhält, wüsste man die Antwort nicht bereits. Denn der Bahamaschef Wertmüller – nach der unvermeidlichen Feststellung, Antisemitismus sei entweder links oder islamisch, tertium bekanntlich non datur – machte bereits in der letzten Ausgabe des Blattes aus seinem Herzen keine Mördergrube und erklärte, „nicht nur unter Freunden beim Wein, sondern nüchtern und öffentlich einzubekennen, dass man mit Leuten, die genau dann „Yallah, Intifada“ oder „From the River to the Sea“ geschrien haben, als sie die Bilder von der Schändung des entkleideten und zu diesem Zeitpunkt hoffentlich schon toten Körpers von Shani Louk auf ihrem Smartphone vorgefunden haben, nicht zusammenleben will, was die Forderung nach ihrer Abschiebung in eines der Yallah-Länder mit einbezieht.“ Dazu gehöre auch, „Allahu-Akbar-Schreier gar nicht erst hineinzulassen.“ So widerlich und sadistisch die geschilderten Gesänge auch sein mögen, so seltsam mutet die Idee an, den Antisemitismus durch seine Ethnisierung bekämpfen und ihn dann bequem exportieren zu können. Und ganz frei von Selbstbeweihräucherung ist diese Idee keinesfalls, denn die nichtmuslimischen Deutschen in Kassel, auf den Bahanas oder anderswo behaupten von sich, dass sie einer „partiell gelungenen Reeducation“ (Blog der BGA Kassel am 21.1. 24) unterzogen wurden, ein Unterfangen, dass bei Muslimen offenbar von vornherein aussichtslos sein muss. Denn die sind nicht geläutert und unfähig zu lernen. Man kennt das ja.

Gegen Sellners erklärtes Anliegen, „Parallelgesellschaften“ resp. „nicht assimilierte“ Migranten auszumachen, die im Zuge der „Remigration“ loswerden zu wollen er propagiert, werden die Herren kaum Einspruch erheben. Als ahnungslos erwiesen sich daher die 5 AfD-Politiker aus dem Osten, die zur Wahl des Begriffes „Remigration“ zum „Unwort des Jahres“ gemeinsam erklärten, dies sei der Versuch „antideutsche Ideologie“ durchzusetzen. Ach was.

Saubermann Brauns

Die größte deutsche Koalition ist die der Antisemiten: Seien es arisch denkende Rechte, seien es internationalistisch fühlende Linke, seien es arabische Einwanderer oder Grillabendstinos, die als Hobby an der Israelkritik basteln wie früher an der Modelleisenbahn – sie alle eint das Wissen darüber, wer hinter allem steckt und im Judenhass verschwimmen die Parteigrenzen. Und so erinnerte die Schlagzeile, mit der die „junge Welt“ das Massaker vom 7.Oktober feierte, nicht von ungefähr an die Lüge Hitlers, von nun an werde „zurückgeschossen“: „Gaza schlägt zurück“.

Der Autor dieser Pressinfamie in 3 Wörtern, Nick Brauns, machte in zwei Beiträgen im Januar deutlich, dass die Schwärmerei für eine rechte Mörderbande wie die Hamas die Wahrnehmung auch anderweitig trübt: Zwar mag es vordergründig naiv klingen, wenn er den DDR-Fußball für das lobt („Profitorientierten Investoren wurde hier ein Riegel vorgeschoben, und auf dem Rasen kickten noch keine Millionäre mit Söldnermentalität.“ ), was die Spieler insgeheim verfluchten, doch dieser Haltung gegen Profitstreben und kosmopolitische Bestrebungen wird jeder Nazihooligan Beifall spenden. Erst recht gilt das für Brauns‘ Artikel gegen Volker Becks Position im Gaza-Krieg: „Doch was schert einen Beck schon das Völkerrecht, wenn es um Israel geht? Die Maxime des Altgrünen, der sich in den 80er Jahren für Straffreiheit von Pädophilie einsetzte und 2016 über einen Drogenfund bei einer Polizeikontrolle stolperte, scheint dann vielmehr nach einem Spontimotto zu lauten: »Legal, illegal, scheißegal!«“ Und wer sich fragt, was eine juristische Diskussion und eine sehr private Sache wie der Drogenkonsum mit Israel zu tun haben, versteht den Sinn dieses Artikels nicht. Es geht um kontextlose moralische Diskreditierung, die man in dieser Form myriadenfach bei trollenden Wutboomern lesen kann, auch wenn die es in ihren Hassforen drastischer formulieren. Und damit soll es genug sein mit dem rechten, pardon: linken, pardon: sehr deutschen Saubermann Brauns. Nicht, dass das hier noch zum Portrait ausartet.

(Und Friederike Gremliza ist zu loben, wie sie Brauns‘ dümmliche Feststellung „Antiimperialistische Haltung sollte bedingungslose Solidarität mit dem Staat Israel ausschließen“ im Interview der jW am 1.2. zerlegte. Müßig zu erwähnen, dass man in der jungen Welt nichts über den Angriff auf einen jüdischen Studenten der FU Berlin lesen kann. Aber vielleicht kommt das noch, in welcher Form auch immer.)

Konnex und Kontext

Das schreibt der Journalist Hanno Hauenstein in der linken Zeitschrift „analyse und kritik“ am 14.10.2023: „Einzelne Akte, wie den Terror der Hamas oder die Kollektivstrafe an allen Gaza-Bewohnern, kann man be- und verurteilen. Doch sie sind nicht von einem Konnex aus gegenseitigen Demütigungen, Gewalttaten, Drohungen und unvereinbaren Forderungen zu lösen. Aufgeladen wird all das noch durch religiösen Fanatismus bis zu apokalyptischer Todes- und Tötungsbereitschaft.“

Dagegen schreibt der neurechte Influencer Martin Sellner am 22.10.2023 auf „sezession.de“: „Kontext ist nicht gleich Rechtfertigung. Kontext ist nicht gleich Verharmlosung. Kontext ist die Grundlage jeder ernstzunehmenden moralisch-politischen Bewertung. In diesem Fall lautet der Kontext: Zivilist*innen in Gaza werden infolge der Blockade seit 16 Jahren überlebensnotwendige Güter vorenthalten. Medizinische Versorgung ist knapp, Zugang zu Lebensmitteln, Treibstoff und Elektrizität, all das hängt buchstäblich von Israels Gutdünken ab. Viele Beobachter*innen fürchten, dass sich hier eine Kollektivstrafe von historischem Ausmaß abzeichnet, die Palästinenser*innen als Ganze trifft.“

Was für ein Unterschied: Der eine meint, man müsse den Massenmord an Juden im Konnex, der andere, man müsse ihn im Kontext sehen, also unter irgendwie mildernden Umständen. Dass der erste Text nicht von Hauenstein, sóndern von Sellner, der den zweiten, den Hauenstein verfasste, nicht schrieb, stammt, erkennt der oder die aufmerksame Leser*in allein daran, dass der Hauptscheitelträger der Identitären niemals gendern würde.

Haben wir es also mit einer Bestätigung der Hufeisentheorie zu tun? Ach wo. So denkt es eben in deutschen, oder, um Sellner Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, großdeutschen Hirnen.

Der Exportweltmeister ist auf Importe nicht angewiesen oder: Deutsche Stimmen zum Massaker an Juden. Ein Alphabet

Alex G.: „Wenn Israel fällt, werden wir hier die nächsten sein, denn sie sind schon unter uns.“ Sind die Deutschen also die neuen Juden?

Andrea N.: „Den Zentralrat solle (sic! TS) man in Neukölln aussetzen.“

Chris L.: „Letzte Woche noch hatten wir Gefärdungen von AfD-Politikern thematisiert, jetzt erweitert sich die ohnehin präsente Problematik, Aktivitäten von jüdischen Einrichtungen zu gewährleisten.“ Nadelstiche und Massaker, alles eins.

Christian S. „Fakt ist: Der sich für unfassbar klug haltende „Impf“-General Netanjahu hat nun in seiner Paraderolle als großer Feldherr die Gelegenheit, das extrem gespaltene israelische Volk hinter sich zu vereinen.“ Ein Crossover von Coronaschwurbelei und Verschwörungstheorie.

Felix D.: „War der Mossad zusammen mit der CIA längere Zeit im Urlaub? Wem nützt dieser Überfall am Ende des Tages? Eigenartig…“ Wer steckt dahinter? Man hat da so eine Ahnung.

Hans-Joachim G.: „Aber wann hat Israel sich jemals auf unsere Seite geschlagen und den Zentralrat der Juden Deutschlands eingefangen, der Jahrzehnte die Linke mit der Masseneinwanderungs-Idee unterstützte? (…) Alle, die jemals die orientalische Einwanderung mitgetragen haben, darunter auch Juden, sind schuld daran, daß diese sogenannten Palästinenser Geld kriegen.“ Das eine hat zwar mit dem anderen nichts zu tun haben, aber man darf doch wohl festhalten, dass die Juden auch daran Schuld haben.

Götz K.: „Der deutsche Staat ist (…) ebenfalls in seiner Existenz bedroht und bereits in einem zerrütteten Zustand. (…) In diesem Zusammenhang muss auf ein Problem hingewiesen werden: es sind starke jüdische Lobbyorganisationen hierzulande, die die Destablisierung der Bundesrepublik Deutschland durch Masseneinwanderung unterstützt haben, und zwar mittels moralpolitischer Intervention – “ Jüdische Lobbyisten zersetzen Deutschland? Klar, das musste auch einmal gesagt werden.

Jim H.: „Es ist der blanke Horror. Und dabei kennt man noch lange nicht das ganze Ausmaß dieses Massakers. (…) Wenigstens sind Netanjahus Tage gezählt.“ Auch mal das Positive am Judenmord sehen.

Johannes S.: „Eure Groß- und Urgroßväter hätten für den Tod einer einzigen Blondine Gaza in Staub und Trockenblut verwandelt. Die SS hätte aus diesem Betonschloß Sand gemacht. Vergeltung ist die Spezialität der schnellen Einheiten der Wehrmacht gewesen. (…) Wenn der islamische Mob mal durch Berlin läuft und alles fickt und totschlägt, was nicht eine Waffe besitzt, dann wird sich diese ganze pervertierte Migrationskultur verkehren, dann kann man beim MG 42 die Läufe im Dauerfeuer tauschen.“ Die IDF als Wunschtraum eines SS-Fans? Ein merkwürdiges Cross-Over.

Laurenz: „Es ist das Diaspora-Judentum, welches (…) die kultur-marxistisch gesteuerte Massen-Invasion unterstützt.“ Auch das also eine jüdische Übeltat, man wusste es.

Lutz L.: „Für die rassistischen Anfeindungen gegen die Deutschen gibt der Staat Israel seinen Namen her. Auch wir haben vitale Interessen und die werden vom Zentralrat der Juden geradezu verächtlich behandelt. Die Entnationalisierungspolitik konnte nur mit dessen Hilfe so über die Bühne gehen. Die AfD hat sich hinter die jüdischen Interessen gestellt und ist vom Zentralrat kaltgestellt worden. Der Zentratrat steht ganz und gar gegen die vitalen deutschen Interessen und reiht sich aus reiner Machtgier in die Reihen derer ein, die die Verantwortung für die Weltkriege, die Zersplitterung Europas und die Auswüchse tragen.“ Dunkle Mächte und ihre Verbündeten. Gut, auch davon zu erfahren.

Martin L.: „Denkbar, dass die israelischen Autoritäten den Hamas-Angriff geschehen ließen, um (…) einen moralischen Vorwand zu haben, den Dauerbrandherd Gaza endgültig zu löschen. (…) Benjamin Netanjahu ist einer der ruchlosesten, intelligentesten und härtesten unter den lebenden Staatsmännern.“ Weswegen auch ein Massenmord an Juden nur von Juden geplant worden sein kann.

Max M.: „Die Globalisten, also Davos, sprich das WEF mit Klaus Schwab und seinen Freunden Soros und Gates haben sich zum Ziel gemacht, die Nationalstaaten zu zerschlagen. Ein starkes patriotisches Israel stört die Pläne der New (= One) World Order. Haben wir schon Worte des Bedauerns zu den schrecklichen Ereignissen von den oben genannten Herren gehört?“ Man ahnt doch, dass nur Juden hinter dem Mord an Juden stecken können.

Michael K.: „Wer sich fragt, warum unsere (sic! TS) Zentralratsoffiziellen immer schriller und beflissener gegen die israelfreundlichste Partei im deutschen Parlament agitieren (…), findet eine Erleuchtung verschaffende Erklärung: Es wird bezahlt.“ Und ich dachte, es sei, weil sich deutsche Juden mit Antisemitismus nicht auskennen.

Nick B.: „Gaza schlägt zurück!“ Seit 5.45 Uhr?

S.B.: „Das wichtigste bei allem Leid wird sein: Israel steht wieder hinter Netanjahu! Schluss mit der Kritik an den Pfizer-Massenimpfungen, Protesten gegen Lockdowns und Masken. Komisch nur, wie bei so viel Bespitzelung eine derartig plötzliche und offiziell unerwartete Welle der Gewalt möglich wurde. Ein blutiger Schachzug?“ Politikern, die impfen lassen, ist schlicht alles zu zuzutrauen.

Thomas von der O-S.: „Was da geschah erinnerte an die Aktionen von den berüchtigten Einsatzgruppen der SS an der Ostfront. (…) So wie die Nazis noch jedes Kleinkind und jede Achtzigjährige aufzuspüren versuchten, um sie entweder an Ort und Stelle zu ermorden oder in die Lager zu verschicken, so machten auch die Milizionäre von Hamas (…) vor niemandem halt.“ Der Vergleich stimmt hoffentlich nicht, denn sonst dürften die Mörder der Hamas auf ähnlich milde Strafen hoffen wie die Mörder der Einsatzgruppen.

Quellen: acta diurna, taz, junge Welt, jungle World, sezession, Leserbriefe an die Achse der Guten

Herr Schreiber und die cancel culture

Anlässlich der öffentlichen Verkündung, dass sich der Nachrichtensprecher Schreiber nicht mehr zum Thema Islam äußern möchte, behauptete der „Ruhrbaron“ Stefan Laurin: „Die Behauptung, es gäbe (gemeint ist: gebe, TS) keine cancel culture, ist Bestandteil der Taktik ihrer Wegbereiter.“ Wie kommt er zu dieser Meinung? Schließlich hat Schreiber seinen Roman „Die Kandidatin“, bei dem es sich um eine Art deutsche Coverversion des anspruchsvolleren Vorgängers „Die Unterwerfung“ von Michel Houellebecq handeln soll, bei einem der größten deutschen Verlage veröffentlichen können. In dem Roman arbeiten Muslime an der Unterwanderung der deutschen Gesellschaft, ein Unterfangen, bei dem ihnen eine ganze Reihe von Diversitätsquoten helfen. Was Herr Schreiber sich da als „düstere Zukunftsfantasie“ bzw. „Dystopie“ ausgedacht hat, beschreibt durchaus wohlwollend Harald Martenstein in der „Welt am Sonntag“ vom 16.9.23: „In den Betrieben“ mit ihrem „strengen Quotensystem“ dürfen „maximal 25% des Managements (…) weiße Männer sein“, es gibt auch eine Mindest-Quote von 15% „für nicht-binäre Sexualitäten“ und eine noch höhere für Muslime, denn die Machtverlustängste weißer Männer verkaufen sich immer gut. Prompt befindet sich Deutschland „auf dem Weg in den Bürgerkrieg, eine politische Mitte existiert praktisch nicht mehr“, die Antifa paktiert, natürlich, mit „Scharia-Brigaden“ und das ist für Martenstein kein paranoider Stuss, wie er Boomerbrains entspringt, sondern keineswegs „unrealistisch, sofern man die gegenwärtigen Tendenzen konsequent in die Zukunft fortschreibt.“ Martenstein veröffentlicht seinen Text nicht im Samisdat, sondern in einer der großen Sonntagszeitungen, klagt aber ebenso wie Schreiber über „Vorsicht, wenn es um gewisse Themen“ („Islam, auch Klima oder Migration“ ) gehe, und er „kenne etliche Kollegen aus den Medien, die ihre Meinung zu solchen Themen inzwischen ebenfalls für sich behalten, außer im Freundeskreis.“ Da geht es dann wohl hoch her.

Laurin aber, um auf den zurückzukommen, schreibt, Schreiber wisse, wovon er spreche, da er „als Journalist in der Region“ gearbeitet habe und daher mitbekommen hat, wie „der Islamer“ (J. Roth) tickt. Klar, dass es hier bald aussehen wird wie dort, wenn die wehrhaften Deutschen aussterben. Der Autor Stephan Buchen sieht dagegen in der „Kandidatin“ strukturelle Ähnlichkeiten mit einem antisemitischen Naziroman, was er sehr ausführlich begründet („ein langes Stück“ klagt der Focus – jede Wette, sie haben es nicht gelesen). Schreiber bezeichnet diese Analyse als empörend, sie sei „einfach Diffamierung“, „keine Debatte“, die er doch eigentlich liebe, und er lässt durchblicken, dass er in ihr einen der Gründe für seinen Rückzug sieht – und weniger in der Torte, die man ihm in der Uni Jena ins Gesicht warf.

Alexander Kissler in der NZZ sieht Schreiber als einen „Aufklärer im besten Sinn“, der nun aber „vor der Gegenaufklärung“ kapituliere, bzw., wie es Kissler in dem ihm eigenen Deutsch schreibt, „in Ansehung des Islams den Notausgang des Verstummens“ genommen habe. Mich erheitert es nicht wenig, von diesem dezidiert katholischen Autor einen Satz wie den folgenden zu lesen: „Die Gegenaufklärung sammelt ihre Bataillone, die Freiheit muss sich rechtfertigen.“ Oder, um es mit Laurin zu sagen: „Cancel culture ist real. Sie will Debatten lenken und die Freiheit zerstören.“ Oder, um es mit Ulf Poschardt zu sagen: „So stirbt (gemeint ist: sterben, TS) die Freiheit und der Westen.“ Oder, um es mit mir zur sagen: Wenn Schreiber behauptet, es sei auch die mangelnde Unterstützung von Kollegen gewesen, die ihn zu seinem Entschluss bewegt habe, könnte man seinen scheinbaren Rückzug auch als Versuch auffassen, alle, die ihn wie Buchen fortan fundiert inhaltlich kritisieren wollen, als unsolidarische Komplizen derjenigen finsteren Macht (Islam) darzustellen, die ihn bedroht. Was aber wäre diese Diskursverhinderung anderes als „cancel culture“?

Übrigens: Das Kulturfestival der Linken in Schwaan musste nach Drohungen von Rechten abgesagt werden. Haben Sie davon gelesen? Nein? Das wundert mich nicht. Ist wohl keine cancel culture.

Danke dafür, AfD oder die mehr als überfällige, wenn auch ungewollte Entlarvung des „cancel-culture“-Hoaxes


Es war nicht die alles beherrschende Nachricht, aber eine Nachricht war es doch, die in den letzten Tagen auf den Zeitungsseiten und im Internet aufblitzte: Die AfD war mit einer Klage gescheitert, die sie vor dem Verwaltungsgericht Hannover gegen das Kultusministerium Niedersachsens erhoben hatte. Eine Schülertheatergruppe der Gesamtschule Schinkel in Osnabrück hatte 2019 ein Stück geschrieben, das auf Tweets von AfD-Politikern basierte und diese dramatisch verarbeitete. Junge Leute machten sich also Gedanken über gesellschaftliche Tendenzen und verarbeiteten diese Gedanken künstlerisch. Kann es eigentlich Erfreulicheres geben? Die AfD sah das anders und meinte einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot der Lehrkräfte zu erkennen. Begleitet wurde die Klage durch eine Veröffentlichung der Adresse des Schulleiters auf der afd-affinen Internetkloake „pi-news“, die Beleidigungen und Bedrohungen durch den rechten Internetmob nach sich zog. Das Gericht aber wies die Klage ab und gewichtete das Recht auf Kunstfreiheit stärker als mögliche Verstöße gegen das Neutralitätsgebot.
Einen kleinen Erfolg wollte die AfD dann doch für sich verbuchen, da es, wie der stellvertretende Landesvorsitzende erklärte, seit der Klageerhebung keine weiteren Projekte dieser Art gegeben habe. Die Einschüchterung scheint also funktioniert zu haben. Diese Taktik ist um so mieser, da sie sich nicht gegen gutsituierte Erwachsene richtet, sondern gegen Jugendliche, die ihren Sorgen auf sehr kreative Art und Weise Ausdruck verliehen haben. Sie bekamen von einer Partei, die bevorzugt auf die Schwächsten in der Gesellschaft eindrischt, den Stinkefinger gezeigt. Das wird ihnen sicherlich eine Lehre sein und sie in ihrem antifaschistischen Engagement bestärken.
Doch allzu schlau war die Klage nicht: Zum einen hat die AfD den Bekanntheitsgrad des Stückes weit über seine ursprünglich 70 Zuschauer hinaus erhöht, zum anderen ist nun klar, dass das Eintreten der AfD und mit ihr verbundener Medien gegen die so genannte „cancel culture“ nichts weiter ist als ein billiger Bluff – denn was wäre dieser Einschüchterungsversuch anderes als eben die cancel culture, deren Beseitigung sogar in einem „10-Punkte-Programm“ der AfD gefordert wird? Man schaue sich außerdem die gleichnamige Website, die ein Redakteur von Novo betreibt und jeden Freitag auf der „Achse des Guten“ verlinkt, ruhig einmal auf die dort getroffene Auswahl an, bzw. im Hinblick auf das, was fehlt: Es fehlt der Fall einer Dozentin an einer Polizeihochschule, die wegen eines kritischen Tweets entlassen werden sollte, es fehlen die rechten Hassbotschaften gegen zwei Lehrer aus dem Spreewald und auch die AfD-Cancel-Attacke gegen die Schüler aus Osnabrück sucht man vergebens. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich beim Gerede von der „cancel culture“ um nichts anderes handelt als um einen Hoax, der jegliches antifaschistische Engagement von vornherein diskreditieren soll. Insofern hat sich die AfD selbst entlarvt. Danke dafür, AfD.

Sterben im Neoliberalismus

Eine Börsenkorrespondentin stirbt früh, mit 52 Jahren. Auf „linkedin“ veröffentlicht ihr Ehemann den folgenden Nachruf: „leider konnte sich x über das jüngste Rekordhoch beim DAX nicht mehr freuen. Sie musste sich mit einem anderen Thema befassen – und das kam heftiger daher als jeder Bär an der Börse. Am 3. August ist x krankheitsbedingt (…) verstorben. (…) Auch xs neuem Arbeitgeber (…) danken wir von Herzen (…). Dass sie Euch so früh und leise wieder verlassen musste, hat sie untröstlich gemacht. Sie hat es nicht mal mehr geschafft, ihre Website zu aktualisieren.“

Was für ein Elend: Noch kurz vor dem letzten Atemzug treibt die Sterbende die Sorge um, dass die Website nicht mehr auf den letzten Stand gebracht wurde, während den Mann vor allem das Bedauern zu bewegen scheint, dass sich die Sterbende über Börsengewinne nicht mehr recht werde freuen können, vom winselnden Dank an den „Arbeitgeber“ ganz zu schweigen.

Ein Leben im Kapitalismus: Man möchte es nicht geschenkt bekommen. Und man bekommt es auch nicht geschenkt.